Steven Wilson
The Overview
Fiction Records/Virgin Music Group/Universal Music

Da ist er wieder: Der britische Gitarrist, Sänger, Keyboarder, Produzent, Songwriter, Tontechniker etc. etc. etc. veröffentlich sein achtes Studioalbum! The Overview besteht aus zwei ausgedehnten Songs, die laut Plattenfirma seine Rückkehr zu den Progressive-Rock-Wurzeln markieren und laut dem Künstler vom sogenannten „Overview Effect“, einem transformativen Erlebnis, das Astronauten beim Blick auf die Erde aus dem Weltall erfahren, inspiriert sind.
Wäre man den Releases des Tausendsassa nicht wohl gesonnen, könnte man sich von Steven Wilson gestalked fühlen: Wenn er gerade nicht einen alten Schatz mit neuem Mastering versieht oder remixed, mit sich selbst oder Porcupine Tree auf Tour geht, eine Blackfield-,No-Man-, Storm-Corrosion-, I.E.M.- oder Bass-Communion-Veröffentlichung in der Pipeline hat oder er sich als Markenbotschafter für die High-End(-Society) zur Verfügung stellt, dann erscheint ein neues Soloalbum – einfach so, zwischendrin. Man fragt sich, woher der wahrscheinlich umtriebigste Musikant, der derzeit auf Erden wandelt, all die Zeit hernimmt. Der Begriff „Workaholic“ scheint im Kontext der Schlagzahl des Wilson-Outputs maßlos untertrieben. Noch dringlicher bohrt jedoch die Frage, woher der Kerl seine Kreativität bezieht!? Bei der Masse an Releases müsste man annehmen, dass der Konsument immer mal wieder mit qualitativ mittelmäßigen oder schwachen Veröffentlichungen konfrontiert wird. Dem ist aber nicht so: Man kann freilich, ob der jeweiligen stilistischen Ausrichtung, geschmäcklerisch geteilter Ansicht sein – sich wiederholende oder gar belanglose Lückenfüller in die Welt hinaus zu schicken, ist Sache des am 3. November 1967 in Kingston, London geborenen Autodidakten nicht. Eine unverkennbare Handschrift hat er wohl – ganz gleich, hinter welchem Arbeitstitel sich diese verbirgt. Diese Signatur lässt sichauch bei The Overview sofort ausmachen: Es hätte kein „Steven Wilson“ auf dem Albumcover stehen müssen, um selbigen auf dem Tonträger zu identifizieren – innerhalb der ersten sechszehn Takte.
Der deutsche Rolling Stone hält The Overview für eine „überkandidelte Rückkehr zum Neo-Prog-Rock“ und wirft dem Album ein „aufgeblasen-astronomisches“ Konzept vor. Die Meinung des Autors in Ehren, aber diesen Kritikpunkt – zumindest was den ersten Begriff vor dem Bindestrich anbetrifft – könnte man, strenggenommen, auf das gesamte Genre anwendenden: Die Neigung zur „Aufgeblasenheit“ lag schon immer in der Natur des Progressive Rock – vor allem bei Konzeptalben ging der Versuch, mehr oder weniger artfremde Musikgattungen schlüssig und ohne energetische Einbrüche zu integrieren, häufig schief – so „gut“ die Alben sonst auch gewesen sein mögen. Nur sehr, sehr wenigen Bands aus der großen Ära des Prog-Rock schafften es, die Spannung über die gesamte Albumspielzeit aufrecht zu erhalten – man denke an hochgelobte Klassiker wieThick As A Brick (Jethro Tull), Brain Salad Surgery (Emerson, Lake & Palmer) oder Octopus (Gentle Giant), die (zurecht) in vielen Bestenlisten auftauchen. Der Neo-Bewegung, von Porcupine Tree über Dream Theater und Tool bis Haken, gelang bzw. gelingt dies ebenfalls nicht, auch wenn sich die spielerischen Fähigkeiten und technischen Möglichkeiten der Musiker, hauptsächlich der Schlagzeuger, extrem weiterentwickelt haben. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, bleiben Alben wie Yes‘ Relayer, King Crimsons In The Court Of The Crimson King oder Genesis‘ The Lamb Lies Down On Broadway Ausnahmen von der Regel. Ein Filmkomponist wie Hans Zimmer wird mit größter Wahrscheinlichkeit, gemessen an Komponisten wie Bruckner, Wagner oder Beethoven, abschmieren – falls es mal über die lange, symphonische Distanz gehen sollte. Über die kurze Strecke jedoch, weiß er zuweilen durchaus zu überzeugen oder besser: zu unterhalten. Und unterhaltsam ist The Overview allemal – obwohl sich hie und da Momente finden, die zum Daumendrehen animieren könnten. Ab und zu sollte man nicht zu streng sein und ein Auge zudrücken, wenn mit der Künstlerambition die Pferde durchgehen. Das tun diese des Öfteren, wenn Wilsons Hang zu opulenten Klängen, die zwischen Ambient, Elektronik, Space-Rock, Metal und Art-Pop schweben, die Vermutung aufkommen lässt, er will alles, wirklich alles ins Album packen, was er kann – oder zu können meint. Jedenfalls sollte man honorieren, wie kurzweilig die Songs „Objects Outlive Us“ und „The Overview“ Wilson letztlich doch geraten sind und, dass diese ein gutes Stücke beseelter daherkommen, als die (über-)komplexen, meist emotional sterilen Kunststückchen, die die spieltechnisch versierteren „Mitbewerber“ ins aktuelle Prog-Rock-Rennen schicken. Keep going Mr. Wilson, keep going. Ihr „unantastbares“ Meisterwerk wird schon noch kommen! Bis dahin darf man sich von The Overview anspruchsvoll entertainen lassen.
Album-Formate
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