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Mobile Fidelity Sound Lab

oder: Wie wahr ist Wahrheit?

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Thema 07.11.2022

Eine rein subjektive, unbedingt objektive Betrachtung des sogenannten "Etikettenschwindels" rund um das kalifornische Label MFSL

Mann, hat das Wellen geschlagen! Da erzählt man sich in audiophilen Kreisen, selbstverständlich hochempört, die Washington Post hätte aufgedeckt, dass die kalifornische Edelklangschmiede MFSL (Mobile Fidelity Sound Lab) ihre Vinyl-Käufer betrogen hätte, indem man Remastering-Prozesse nicht rein analog, sondern digital vollzogen hätte. Wenn die Gerüchteküche erstmal am Brodeln ist, sind deren krebsgeschwürartigen Auswucherungen eigentlich kaum noch unter Kontrolle zu bekommen – ein dem 21. Jahrhundert ganz und gar unwürdiges Trauerspiel,  dass sich jeglicher Wahrheit entzieht und genaugenommen dem zeitgeistigen Feld der Fake-News zugeordnet werden muss.

 

Es war wohl ein nachdrücklich recherchierender Plattenhändler, der „das Ganze“ aufgedeckt hat und nicht das Rechercheteam der Washington Post! Und was deutlich schwerer wiegt: Das geschwätzig, in sensationslüsterner  Klatsch-und-Tratsch-Manier in die Welt gestreute „Ganze“ lässt sich – nach einfacher Prüfung der Faktenlage – auf ein, wenn auch nicht nebensächliches Faktum, reduzieren. Im Klartext: MFSL hat beim Remastering-Prozess von den analogen Masterbändern nicht immer eine analoge Bandkopie gefertigt. Nicht mehr und nicht weniger. Dies tat man nicht aus Faulheit, sondern aus Gründen der tontechnischen. Ursprünglich waren die  MFSL-Toningenieure gezwungen einen digitalen „Zwischenschritt“ vorzunehmen, um bestimmte Schätze überhaupt heben zu dürfen. Der Grund hierfür lag in der berechtigten Sorge vieler Masterband-Besitzer, das hochempfindliche Ausgangsmaterial könne, aus der Hand gegeben, Schaden nehmen oder gar verloren gehen. Ist doch verständlich. Wer will schon unersetzlich-wertvolle Originalbänder den Risiken aussetzen, die besonders mit langen Transportwegen verbunden sind?  Ist jedoch von allen Seiten der Wille da, das klangliche Potential des Ausgangsmaterials auszuloten – natürlich mit den dazugehörigen wirtschaftlichen Interessen –, muss man sich etwas einfallen lassen.  So kam es, dass der Berg beschloss zum Propheten zu gehen. Nicht-biblisch ausgedrückt: Wenn die Bänder nicht zum Studio kommen können, dann muss das Studio eben zu den Bändern gehen. Hat ein Label also Interesse an einer Bearbeitung der Tonbänder durch MFSL, möchte aber nicht, dass die Bänder das Haus verlassen, leitete Mobile Fidelity Sound Lab mobile Maßnahmen ein: Eine eigens vom leider kürzlich verstorbenen Entwicklergenie Tim de Paravicini modifizierte, mit speziellen Tonköpfen ausgestattete Bandmaschine geht samt  analogen Verstärkern auf die Reise – direkt in das Archiv, in dem die Bänder gelagert werden. Im Anschluss reist ein Toningenieur von MFSL an, der die Masterbänder in Augenschein nimmt und die Tonbandmaschine vor Ort kalibriert – ein Vorgang, der abhängig vom Zustand der Bänder und Anzahl der Spulen, mehrere  Tage in Anspruch nehmen kann. Bei solchen „Auswärtsspielen“ werden die Bänder mit einer Samplingrate von 11,2 MHz im 1-Bit-Verfahren mittels dem Schweizer Pyramix-System mit 4xDSD digitalisiert. Die klanglichen Ergebnisse in den waren in den Ohren der Toningenieure so überzeugend, dass man bei MFSL entschied, die aufwändige Herstellung von analogen Bandkopien ad Acta zu legen und ausschließlich auf den eben geschilderten Digitalisierungsprozess zu setzen. Genau dort liegt der Hund begraben: Mobile Fidelity Sound Lab hat weder den „Zwischenschritt“ – im Anschluss wird der digitale Transfer in den MFSL-Studios im kalifornischen Sebastopol wieder an einem analogen Mischpult gemastert und final in Lack geschnitten – noch die neue Arbeitsweise jemals an die große oder kleine Glocke gehängt und muss sich diesbezüglich daher den Vorwurf der Intransparenz unbedingt gefallen lassen. Marketing-seitig nahm man es bei MFSL buchstäblich und sehenden Auges in Kauf, den Verbraucher hinsichtlich der digitalen „Unterbrechung“ des Analogverfahrens  in Unwissenheit zu lassen.

 

Anscheinend sind inzwischen zwei Klagen gegen MFSL angestrengt worden, die eine Strafe bzw. Schadenersatz fordern. Eine davon scheint bereits abgeschmettert worden zu sein. Der Ausgang der Zweiten, eine Sammelklage, ist ungewiss, weil unklar, ob eine MFSL-Kennzeichnung der Remastering-Verfahren  mit „AAA“ (analoge Aufnahme, analoges Mastering und analoge Veröffentlichung) die Wahrheit juristisch umfassend widerspiegelt. Die Klagen und der berechtigte Vorwurf mangelnder Transparenz bilden allerdings nicht alle Realitäten der audiophilen Szene ab – ganz gleich, ob verkaufs- oder verbrauchsseitig: Unstrittig ist, dass MFSL eine echte Benchmark in Sachen audiophile Vinyl-(Re-)Releases darstellt. Dies ist nicht als allgemeingültige Aussage über die klanglichen Tugenden der jeweiligen Veröffentlichung gemeint. Fakt ist, dass sowohl Verkäufer als auch Käufer MFSL-Re-Releases, wie alle Wiederveröffentlichungen auch, individuell – meist durch den direkten Vergleich mit den Original- und/oder Nachpressungen – beurteilen. Mediale oder private Klangrezensionen, in denen der vorhin beschriebene Zwischenschritt vermutet wird, dürften genauso wenig das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben wie der jetzt angeprangerte, fehlende MFSL-Hinweis auf seinen digitalen Transfer. „Gefällt mir“ oder „gefällt mir nicht“ bzw. „besser, weil“ oder „schlechter, weil“ waren und sind nach wie vor die gängigen Bewertungskriterien für den Klang einer Schallplatte. Allein dies führt den jetzigen Aufschrei der Empörung ad absurdum. Beobachtet man die exorbitanten Verkaufspreise für einige nicht mehr erhältliche MFSL-Releases, könnte man vermuten, dass viele Klagende doch eher um den Verfall der lächerlich hohen und genauso intransparenten Marketplace-Wiederverkaufspreise ihrer Raritäten fürchten. Dies wiederum deutet darauf hin, dass es einigen in Wahrheit gar nicht um den Analogklang, sondern um die Schallplatte als Wert- und somit als Spekulationsobjekt geht.

 

Taucht man noch tiefer in die Wahrheiten der audiophilen Vinyl-Szene, wird einem schnell bewusst, dass grundlegende Fragen ohnehin nicht ausreichend erörtert werden und, dass kein wirklich tief verankertes Bewusstsein hinsichtlich der Aufnahmerealitäten herrscht. Schließlich handelt es sich bei weit über 95 Prozent der Vinyl-Veröffentlichungen um in Lack geschnittene Digitalaufnahmen. Selten genug wird dem „180-Gramm“-Vinyl-Verkaufsargument wirklich auf den Zahn gefühlt – erst recht nicht, wenn man so wichtige Kriterien wie Presssorgfalt und -qualität der völlig überlasteten Presswerke genauer beleuchtet. Man könnte beispielsweise die VTA-Einstellung des Tonarms, die man permanent verändern müsste, um den durch die Scheibendicke bedingten Höhenunterschied zwischen den Schallplatten auszugleichen – nur so lassen sich die theoretischen Vorteile „dickerer“ Scheiben wirklich beurteilen – eindringlicher thematisieren. Stattdessen werden hier – sowohl was die Praxis als auch das kritische Hinterfragen einer solchen Marketing-Etikette anbetrifft – anderthalb Augen zugedrückt. Man könnte noch weiter gehen und die klanglichen Vorteile vieler 45er-Umschnitte gegenüber ihren 33-rpm-Schwestern oder den Einfluss von Kolorierungen auf das „schwarze Gold“ genauer eruieren – immerhin setzt sich das Gerücht, „Schwarz“ klänge grundsätzlich besser, hartnäckig fest. Interessanterweise halten es diejenigen, die besonders streng gegenüber Mobile Fidelity Sound Lab auftreten, ziemlich elastisch mit den eben aufgezählten Realitäten bzw. Fragestellungen. Der berühmte Dorn in „des Bruders Auge“ wiegt oftmals leichter als der Balken vor dem eigenen. Sei’s drum. MFSL hat seine Lehren gezogen und zukünftig vor, die jeweiligen Arbeitsschritte explizit auf dem Cover zu benennen und für bereits veröffentlichte Titel die entsprechenden Informationen auf der MFSL-Homepage zur Verfügung zu stellen. Die Gemüter dürfen sich also gern wieder etwas beruhigen. Inwieweit sich eine ganzheitlichere, strengere Betrachtung aller „Etikettenschwindel“, die in der Musikindustrie gang und gäbe sind, im audiophilen Bewusstsein durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.